Michel Foucault: DAS ABENDLAND UND DIE WAHRHEIT DES SEXES

 

   Ein namenloser Engländer hat gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein ungeheures Werk verfaßt, das in nicht mehrals zehn Exemplaren gedruckt wurde; es kam nie zum Verkauf und landete am Ende bei einigen Sammlern oder in seltsamen Bibliotheken. Eines der unbekanntesten Bücher, es heißt "My Secret Life". Der Autor erzählt darin haarklein ein Leben, das er im wesentlichen der sexuellen Lust gewidmet hatte. Abend für Abend, Tag für Tag erzählt er bis in die geringsten Einzelheiten, ohne Angeberei, ohne große Worte, in der einzigen Sorge, zu sagen, was passiert ist, wie es passiert ist, mit welcher Intensität und mit welcher Gefühlsqualität.

   Wirklich seine einzige Sorge? Schon möglich. Denn häufig redet er von dieser Aufgabe, täglich über seine Lust zu schreiben, wie von einer bloßen Pflicht. So als handelte es sich um eine geheime, ein wenig rätselhafte Auflage, der er sich nicht entziehen kann: man muß alles sagen. Und doch gibt es da noch etwas anderes: für diesen eigensinnigen Engländer geht es darum, in diesem Arbeits-Spiel eine überaus dichte Verbindung der Lust, des wahren Diskurses über die Lust und der Lust daran, diese Wahrheit auszusprechen, zu schaffen; es geht darum, dieses Tagebuch - ob er es nun mit lauter Stimme liest oder gemessen niederschreibt - für die Entwicklung neuer sexueller Erfahrungen zu benutzen, nach den Regeln gewisser. befremdender Lüste, in denen "Lesen. und Schreiben" eine spezifische Rolle spielen.

   Stephen Marcus* hat diesem dunklen Zeitgenossen der Königin Viktoria einige bemerkenswerte Seiten gewidmet. Ich neige nun meinerseits nicht so sehr dazu, in ihm eine Gestalt im Schatten, auf der "Gegenseite" eines Zeitalters der Schamhaftigkeit zu sehen. Ist er wirklich die diskrete und grinsende Rache an der Prüderie der Epoche? Mir scheint er vor allem an einem Punkt zu stehen, an dem drei Entwicklungslinien in unserer Gesellschaft zusammenlaufen, die alles andere als geheim sind. Die jüngste von ihnen ist diejenige, die die Medizin und die Psychiatrie der Epoche dazu brachte, sich mit dem Eifer des Insektensammlers auf die sexuellen Praktiken, ihre Varianten und ihre ganze Verschiedenartigkeit zu stiirzen: Krafft-Ebing** ist nicht fern. Die zweite, etwas ältere, ist die, die seit Retif und Sade die erotische Literatur dahin geführt hat, ihre Effekte nicht mehr nur in der Heftigkeit oder Ausgefallenheit der Szenen, die sie ersann, zu suchen, sondern in der leidenschaftlichen Erforschung einer bestimmten Wahrheit der Lust: eine Erotik der Wahrheit, eine Verbindung von Wahrheit und Intensität sind bezeichnend für diese neue "Libertinage", die am Ende des 19. Jahrhunderts auftritt. Die dritte Linie ist die älteste; sie hat seit dem Mittelalter das ganze christliche Abendland durchzogen: das strenge Gebot an einen jeden, durch Beichte und Gewissensprüfung auf dem Grunde seines Herzens die kaum wahrnehmbaren Spuren der Begehrlichkeit aufzuspüren. Man lasse sich nicht täuschen von der Quasi-Heimlichkeit von "My Secret Life": die Verbindung des wahren Diskurses zur sexuellen Lust ist eine der beständigsten Sorgen der abendländischen Gesellschaften gewesen. Und das seit Jahrhunderten.

   Was hat man nicht alles über diese bürgerliche, verlogene, schamhafte Gesellschaft gesagt, die mit ihren Lüsten geizt und sie um keinen Preis anerkennen noch beim Namen nennen will, was hat man nicht über jenes schwerste Erbe gesagt, das sie vom Christentum übernommen hat - den Sünden-Sex. Und über die Art und Weise, wie das 19. Jahrhundert dieses Erbe zu ökonomischen Zwecken gebraucht hat: Arbeit statt Lust, Reproduktion der Kräfte statt. purer Verausgabung von Energien.

   Und wenn das nun nicht das Wesentliche wäre? Wenn es im Innern der "Politik des Sexes", ganz andere Räderwerke gäbe? Nicht die der Verwerfung und Verdunkelung, sondern solche der Anreizung? Wenn die wesentliche Funktion der Macht nicht darin bestünde, Nein zu sagen, zu untersagen und zu zensieren, sondern darin, in einer endlosen Spirale den Zwang, die Lust und die Wahrheit aneinanderzubinden?

 

   Die Pflicht zum Geständnis

 

   Denken wir nur an den Eifer, mit dem unsere Gesellschaften seit mehreren Jahrhunderten mittlerweile all die Institutionen vermehrt haben, die dazu bestimmt sind, die Wahrheit des Sexes zu erpressen, und die damit selbst eine spezifische Lust produzieren. Denken wir an die maßlose Pflicht, zum Geständnis und an all die zwiespältigen Lüste, die es gleichzeitig durchkreuzen und wünschbar machen: Beichte, Erziehung, Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, Ärzten und Kranken, Psychiatern und Hysterischen, Psychoanalytikern und Patienten. Man sagt häufig, das Abendland sei unfähig gewesen, auch nur eine einzige neue Lust zu erfinden. Hält man denn die Wollust, mit der man herumschnüffelt, aufstöbert, interpretiert, hält man diese "Lust an der Analyse" (im weitesten Sinne) etwa für nichts? Eher als eine der Repression des Sexes gewidmete Gesellschaft würde ich die unsere als eine seinem "Ausdruck" gewidmete sehen. Man verzeihe mir dieses abgewertete Wort. Ich würde das Abendland als hartnäckig bemüht sehen, die Wahrheit des Sexes ans Licht zu zerren. Das Verschweigen, die Sperren, die Fortnahmen dürfen nicht unterschätzt werden; aber sie konnten sich nur bilden, konnten ihre furchtbaren Wirkungen nur vor dem Hintergrund eines Willens zum Wissen produzieren, der unsere gesamte Beziehung zum Sex durchzieht. Ein derart gebieterischer Wille zum. Wissen, von dem wir so gefesselt sind, daß wir bereits nicht mehr bloß die Wahrheit des Sexes suchen, sondern von ihm unsere eigene Wahrheit verlangen.

   Er soll uns sagen, was mit uns los ist. Von Gerson bis Freud erstellt sich eine ganze Logik des Sexes, die die Wissenschaft vom Subjekt organisiert hat. Wir bilden uns gern ein, wir gehörten zu einem "viktorianischen" Regime. Mir scheint es, daß unser Königreich eher jenes ist, das Diderot sich in den "Indiskreten Kleinoden" ausgedacht hat: ein bestimmter kaum sichtbarer Mechanismus bringt den Sex mit fast unerschöpflicher Geschwätzigkeit zum Sprechen. Wir leben in einer Gesellschaft des sprechenden Sexes.

   Ebenso muß man vielleicht eine Gesellschaft über die Art und Weise befragen, nach der sich in ihr die Beziehungen der Macht, der Wahrheit und des Wissens herstellen. Wie mir scheint, lassen sich hier zwei wesentliche Verfahrensweisen unterscheiden. Die eine ist die der ars erotica. Hier wird die Wahrheit aus der Lust selber gezogen, als Erfahrung gesammelt, auf ihre Qualität hin analysiert und in ihren Ausstrahlungen im Körper und in der Seele verfolgt, und dieses kunstvolle Wissen wird unter dem Siegel des Geheimnisses in der Initiation durch einen Meister an jene übertragen, die sich seiner würdig erwiesen haben und die es nun wieder in ihre Lust einströmen lassen, um sie intensiver stärker vollkommener zu machen. Die abendländische Zivilisation kennt seit Jahrhunderten jedenfalls keine ars erotica; sie hat die Beziehungen der Macht, der Lust und der Wahrheit in anderer Art verknüpft: in der einer "Wissenscbaft vom Sex". Ein Wissenstyp, wo das Analysierte weniger die Lust als vielmehr das Verlangen ist; wo der Meister nicht die Aufgabe hat zu initiieren, sondern zu befragen, zuzuhören, zu entziffern; wo der lange Prozeß nicht eine Vermehrung der Lüste zum Ziel hat, sondern eine Veränderung des Subjekts (das hierdurch Verzeihung oder Versöhnung, Heilung oder Befreiung findet).

 

   Die Strategien aufzeigen

 

   Zu zahlreich sind die Beziehungen zwischen jener Kunst und dieser Wissenschaft, um hier eine Trennungslinie zwischen zwei Gesellschaftstypen ziehen zu können. Ob es sich um die Gewissensführung oder um die psychoanalytische Kur handelt, stets bringt das Wissen vom Sex gewisse Gebote der Geheimhaltung, eine bestimmte Beziehung zum Lehrmeister und eine ganze Fülle von Versprechungen mit sich, die es wieder in Verwandtschaft zur ars erotica bringen. Glaubt man denn, daß ohne diese unklaren Beziehungen manche Leute so teuer das Recht erkaufen würden, zweimal die Woche mühsam die Wahrheit ihres Verlangens zu formulieren und geduldig den Segen der Interpretation abzuwarten? Meine Absicht ist es, eine Genealogie dieser "Wissenschaft vom Sex" zu machen. Kein sonderlich neuartiges Unternehmen, ich weiß: viele sind heute damit beschäftigt, zu zeigen, wie viele Verweigerungen, Verdunkelungen, Ängste, systematische Verkennungen lange Zeit ein mögliches Wissen vom Sex gegängelt haben. Ich möchte allerdings diese Genealogie in positiven Begriffen angehen, ausgehend von den Anreizungen, den Brennpunkten, Techniken und Verfahren, die die Bildung dieses Wissens erlaubt haben; ich möchte, vom christlichen Problem des Fleisches angefangen, all die Mechanismen verfolgen, die einen Wahrheitsdiskurs über den Sex eingeführt und ein gemischtes Regime von Lust und Macht um ihn errichtet haben. Angesichts der Unmöglichkeit, diese Genese umfassend zu verfolgen, werde ich versuchen, in Einzelstudien einige ihrer wichtigsten Strategien aufzuzeigen: gegenüber den Kindern, gegenüber den Frauen, gegenüber den Perversionen und gegenüber der Geburtenregelung. Die traditionell gestellte Frage lautet: Warum hat das Abendland den Sex so lange Zeit schuldig gesprochen und wie ist man gegen diese Verweigerung und Angst endlich dahin gekommen, ihm, und sei es durch noch so viele Auslassungen hindurch, die Frage nach der Wahrheit zu stellen? Warum und unter welchen Umständen hat man sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts daran gewagt, einen Teil des großen Geheimnisses an den Tag zu bringen, und auch das nur unter Schwierigkeiten, von denen der Mut Freuds immer noch Zeugnis ablegt?

 

   Ein neues Schuldbewußtsein

 

Ich möchte die Frage ganz anders ansetzen: Warum hat das Abendland so unablässig nach der Wahrheit des Sexes gefragt und von jedem Einzelnen gefordert daß er sie für sich formuliere? Warum hat es mit solcher Versessenheit darauf bestanden, daß unsere Beziehung zu uns selbst über diese Wahrheit zu laufen hat? Sodann muß man sich darüber wundern, daß wir seit Beginn des 20. Jahrhunderts von einem großen und neuartigen Schuldbewußtsein befallen sind, daß wir seither so etwas wie einen historischen Gewissensbiß empfinden, der uns glauben läßt, wir hätten uns gegen unseren Sex versündigt. Mir scheint, daß in dieser neuen Schuldigsprechung, nach der wir so zu lüstern scheinen, etwas systematisch verkannt wird, und zwar eben diese große Wissenskonfiguration, die das Abendland unaufhörlich mit Hilfe von religiösen, medizinischen und sozialen Techniken um den Sex herum errichtet hat. Ich gehe davon aus, daß man mir diesen Punkt zugestehen wird. Aber man wird mir sofort sagen: "Dieses ganze Getöse um den Sex, diese ständige Sorge, das hat doch, wenigstens bis zum 19. Jahrhundert, nur ein Ziel gehabt: die freie Ausübung des Sexes zu untersagen." Freilich, die Rolle der Verbote ist bedeutend gewesen. Aber wird der Sex zuerst und vor allem verboten? Oder sind die Verbote etwa nur Fallen, die eine komplexe und positive Strategie stellt? Hier stoßen wir auf ein allgemeineres Problem, das als Kontrapunkt zu dieser Geschichte der Sexualität behandelt werden muß, das Problem der Macht. Spricht man von der Macht, so begreift man sie meist auf ziemlich spontane Weise als Gesetz, als Verbot, als Absperrung und Unterdrückung, und hat sich damit selbst der Waffen beraubt, ihre positiven Mechanisrnen und Wirkungen zu verfolgen. Ein bestimmtes juristisches Modell lastet auf den Analysen der Macht und lässt sie die Form des Gesetzes mit einem absoluten Privileg versehen. Es gilt, eine Geschichte der Sexualität zu schreiben, die nicht mehr von der Vorstellung einer Repressions-Macht, einer Zensur-Macht geleitet wird, sondern von der einer Anreizungs-Macht, einer Wissens-Macht; man muß versuchen, das Regime von Zwang, Lust und Diskurs freizulegen, das jenen

komplexen Bereich der Sexualität nicht versperrt, sondern begründet. Meinem Wunsch nach soll diese fragmentarische Geschichte der "Wissenschaft vom Sex" gleichzeitig den Entwurf einer Analytik der Macht liefern.

 

*Historiker, Autor von "The other Victorians", einem Werk über

die verborgene Seite der puritanischen englischen Gesellschaft.(A.d.'0.)

**Deutscher Sexualwissenschaftler, Autor von "Psychopathia sexualis" (1882).(A.d.Ü.)

 

Aus dem Französischen von Ulrich Raulf

Zuerst erschienen in Le Monde, 5.11.1976; dt. Übersetzung in: M. Foucault: Dispositive der Macht, Berlin 1978